Gastautor Mattia Rüfenacht über ein Bildungssystem, das beginnt aus der Zeit zu fallen. Und was wir tun müssen, um weiter zu kommen.
(Lesedauer 4 Minuten)
Seit Geburt eines Menschen sind sein Gehirn und Verhalten so ausgerichtet, dass das Individuum kontinuierlich lernt und sich entwickelt. Junge Menschen verfolgen diesen Prozess mit unglaublicher Effektivität sowie Effizienz und scheinen daran sogar Freude zu haben. Nun vergleichen Sie einmal dieses Verhalten und Mindset mit jenen Individuen, welche bereits längere Zeit Teil des designten Rahmen des Bildungssystem sind. Es ist beängstigend, wie gross die Unterschiede zwischen den Beobachtungen sein können.
Schule ist Pflicht?
Millionen von Kindern ist nicht klar bewusst, was die eigentliche Absicht von Schule ist. Für viele ist sie einfach vor allem Pflicht. Ich frage mich daher, wo genau der Wendepunkt ist, wo junge Menschen von “hungrig nach Wissen” übergehen zur Haltung “ich habe die Schule satt”. Bis heute habe ich darauf keine sattelfeste Antwort und denke, dass es womöglich stark von unterschiedlichen Faktoren abhängig ist. Wie auch immer; die meisten der heutigen Modelle der Bildung sind in ihrer Art Auslaufmodelle. In der heutigen Zeit, wo Informationen für fast alle einfach und jederzeit von nahezu überall zugänglich sind und das zu minimalen Kosten, wird der Grund in eine konventionelle Schule zu gehen immer diffuser.
„Erzähl mir und ich vergesse. Lehre mich und ich erinnere.
Bezieh mich ein und ich lerne.“
– Benjamin Franklin
Smarte und nicht-smarte Menschen
In den meisten Fällen sind diese Schulsysteme von unseren Vorfahren entwickelt und für eine andere Zeitepoche errichtet worden. Sie wurden organisiert während einer Zeit der intellektuellen Kultur der Erkenntnis und den ökonomischen Voraussetzungen der industriellen Revolution. Das intellektuelle Modell des Verstandes besagte, dass wirkliche Intelligenz aus Fähigkeiten der deduktiven Schlussfolgerung und klassischem Wissen bestehe. Klassischem Wissen im Sinne von akademischen Veranlagungen und Know-How. Dadurch wurden wir immer mehr so programmiert, dass wir zwischen Akademikern und Nicht-Akademikern unterscheiden, zwischen smarten Menschen und nicht smarten Menschen.
Folge dessen gibt es viele, die glauben, dass man nicht brillant sei oder sein könne, wenn man kein höheres Diplom irgendeiner Art habe. Oder noch schlimmer: Viele brillante Menschen glauben, sie seien es nicht. Meiner Meinung nach ist dies einer der Faktoren, welcher die Welt, die wir geschaffen haben, stark beeinflusst. Eine Welt, wo Schein zumindest kurzfristig oftmals höher gepreist wird als der eigentliche Substanzwert. Dieses Phänomen stellt für unsere Gesellschaft potenziell eine grosse Schwachstelle dar.
Learning Coaches
Diese Umstände bringen mich zur Folgerung, dass die Lehre als Tätigkeit und die Bildung allgemein als System sich den neuen Bedingungen und Rollen anpassen müssen. Rollen, die eine Wandlung vom “Curriculum Verteiler” zum “Learning Coach” bedingen. Die neuen Rollen haben die Funktion, die natürliche Passion und Genialität von Schülern und Studenten zu fördern, anstatt die Verteidigung von vertieftem Wissen aufrechtzuerhalten und junge Menschen einen mehr oder weniger vordefinierten Pfad für die Massen aufzuzwingen. Schüler und Studenten müssen ermutigt werden, vermitteltes Wissen und Methoden in Frage zu stellen und neue innovative Erkenntnisse als Individuen und Kollektiv zu finden.
Während meinen eigenen Schul- und Weiterbildungserfahrungen habe ich einige Lehrpersonen erlebt, die nach ihrer Wahrnehmung dieser Rolle gerecht werden. Nichtsdestotrotz gibt es auch Lehrpersonen, welche sich im Gespräch klar äusserten, dass sie aufgrund der Limitationen des Systems unfähig wären, diese Rolle einzunehmen und zu leben. Und das nicht etwa aufgrund eines mangelnden persönlichen Wunsches. Es stellt sich also die Frage: Von wo genau kommen diese Limitationen und wer ist verantwortlich dafür, dass die Realisation eines signifikanten Wandels schwieriger gemacht wird? Es ist wohl relativ offensichtlich, dass es da einen kausalen Zusammenhang geben könnte. Lassen Sie mich also eine provokative Frage in den Raum werfen. Was ist, wenn das Bildungssystem genauso korrupt ist, wie das viele andere Industrien und Menschen auch sind?
Wollen wir verantwortungsbewusst als Gesellschaft vorwärts gehen, so können wir wohl zusammenfassen, dass der dramatische Wandel in der Welt der Arbeit und Beschäftigung, und besonders derjenige, der uns noch bevorsteht, bedeutet, dass die Basis einer neuen Interpretation der Bildung die Werte der Nachhaltigkeit und Anpassungsfähigkeit im Kern verkörpern muss.
Zukunftsszenarien
Meiner Meinung nach sind wir aufgefordert, uns (wieder) klare Gedanken zu potenziellen Zukunftsszenarien zu machen. Gedanken zu einer Welt, in der wir selbst leben und für unsere Kinder sowie deren Kinder vorbereiten wollen. Globale Interkonnektivität, smarte Maschinen und neue sowie aufkommende Medien sind nur einige der Treiber, die unser Verständnis von Bildung und Arbeit formen. Das Konzept eines 100-jährigen Lebens wird sehr wahrscheinlich zur Norm.
Ein wesentlicher Grossteil dieser Zeit verbringen wir mit Lernen und Arbeiten, was bedeutet, dass der Lernprozess als solches für künftige Generationen noch viel wichtiger wird, als dies heute schon der Fall ist. Die meisten aller Menschen werden eine Vielzahl an verschiedenen Karrieren verfolgen (müssen). Dies verlangt nach fundamentalen Neuorientierungen und -ausbildungen, währenddem die Geschwindigkeit der Innovation mindestens konstant neue Fähigkeiten und Wissen erfordert, um mit der Entwicklung mithalten zu können. Es ist also an der Zeit, nicht nur spezifische Visionen und Ziele zu definieren, sondern auch an konkreten Massnahmenplänen zu arbeiten, um heute die Investitionen aufzugleisen, die es benötigt, um die langfristigen Ziele zu erreichen.
In diesem sozialen und ökonomischen beziehungsweise technologischen Umfeld fällt grundsätzlich jede Industrie in eine der drei folgenden Gruppen:
In diesem Moment ist Ihre Industrie entweder
a) bereits disruptiert worden,
b) wird gerade disruptiert oder
c) wird disruptiert werden.
Keine Industrie und keine Unternehmung, daher auch nicht die Bildung, werden diesem Prozess vollkommen entfliehen können, da er Teil eines natürlichen Kreislaufes des Wandels ist. Die gute Nachricht ist: Die Disruption verkleidet sich als Opportunität, wenn man sie denn als solche erkennen will. Es ist eine Opportunität, die Zukunft so zu designen, wie wir sie gerne haben wollen und auch brauchen können. Lassen Sie uns also alle die Verantwortung übernehmen und mit entsprechenden Massnahmen reagieren, um dann letztlich wieder agieren zu können.
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4 Antworten auf „Wieso wir das Bildungssystem anpassen müssen“
Hallo,
interessanter Artikel.
Ich sehe das Problem hauptsächlich in der Trägheit staatlicher Organisation in diesem Bereich.
Unternehmen haben den zwingenden need, sich mit der Digitalen Transformation auseinanderzusetzen, da sie sonst aufgrund mangelnder Wettbewerbsfähigkeit nicht länger überleben könne (mittel- bis langfristig).
Behörden, Schulen haben diesen Zwang noch nicht verstanden und eben auch nicht den unmittelbaren Druck, hier zu agieren.
Gruß
Rüdiger
Sehr interessanter Artikel, danke Mattia.
Weiter so!
Sie haben nicht vorgeschlagen wie das schul-lernsystem aussehen sollte. Oder habe ich es nicht erkannt?
Meine Intention mit dem kurzen Artikel war nicht die Konzeption eines konkreten Vorschlages für ein Schulsystem. Das masse ich mir nicht an. Dazu muss ich übrigens auch erwähnen, dass ich bezweifle, dass es das eine welche überhaupt gibt. Vielmehr, und das habe ich auch so beschrieben, war mir wichtig hervorzuheben, warum ich denke, dass wir etwas tun müssen und dass sich die Rollen der Bildungsinstitutionen wesentlich verändern, was eben eine Umdenke bedingt.