Sie kennen das: Immer wieder kommen neue Firmen auf, welche scheinbar aus dem Nichts mit einer neuen Technologie oder der veränderten Anwendung einer Technologie bestehende Märkte aufmischen und bewährte Player verdrängen. Viele werden antworten: „Na ja, das ist die Digitale Revolution, das ist nun einfach mal so.“ Andere werden sagen, dass die Führungsetage der bestehenden Unternehmen die Digitale Transformation verschlafen und mental nicht bereit sind, entsprechende Veränderungen vorzunehmen. Ganz so einfach ist es jedoch nicht. Warum nicht?
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In einer meiner letzten beruflichen Stationen unterhielten wir einen Entwicklungsstandort im Osten der Slowakei. Wir flogen damals regelmässig hin, um vor Ort Projekte und Prozesse zu besprechen und ganz allgemein Zeit mit dem Team zu verbringen. Das Büro war im Gebäude des lokal führenden ISPs der Stadt eingemietet und eines Tages bekamen wir eine kleine Führung durch den Betrieb und lernten die Produkte und Services kennen. Was dabei sehr erstaunlich war: Nahezu auf dem ganzen Stadtgebiet (rund 260k Einwohner) war eine sehr schnelle Fiberglass Internet-Anbindung verfügbar. Mehr noch, das Angebot schloss Telefonie und TV mit ein. Das alles zu einem Preis der bereinigt bedeutend tiefer war als in der Schweiz. Das war im Jahr 2008, da hatten wir in der Schweiz noch keine gebündelten Angebote von Swisscom und Co. und nur ganz wenige On-Premise Fiberglass Anbindungen. Warum war das so?
Ein möglichst kleiner Amortisationszwang schafft Raum für Flexibilität
Die Antwort ist geradezu banal. Während z. Bsp. in der Schweiz die letzten 50 Jahre ein umfassendes und gut gewartetes Telefonnetz unterhalten und massiv investiert wurde, ist dergleichen in der Slowakei nur geringfügig geschehen. Bis in die 90er Jahre war die Slowakei kommunistisch und protektionistisch geprägt. Als sich 1998 das Land öffnete und nach und nach modernisierte, bestanden keine teuren Netze, welche es zu amortisieren gab. Das wiederum gab betriebswirtschaftlich Raum, um neue Infrastruktur mit neuer Technologie aufzubauen. Der Grund warum die Stadt also Fibre to the home hatte, während wir hier davon träumten, lag schlicht daran, dass es keine Infrastruktur, welche auf alten Technologien basiert, zu amortisieren gab. Super easy, oder? Dieser Effekt hat sich für mich persönlich unter dem Begriff „Fiberglass-Paradoxon“ gesetzt.
In der Folge bin ich immer wieder Situationen begegnet, wo genau dieser Mechanismus eine grosse Rolle spielte. Da war zum Beispiel dieser Kunde, der Unsummen in eine eCommerce-Plattform investiert hatte und nun rein wirtschaftlich handlungsunfähig geworden war, da er zuerst die bestehende Lösung amortisieren musste. Die Wahl wurde zur Qual. Entweder einen grossen Teil abschreiben oder mittelfristig im Markt verlieren. Oder wenn ich höre, dass Staudammprojekte auf 50 Jahre amortisiert und ausgelegt sind. Man möchte den Verantwortlichen zurufen: Erwartet ihr nicht mehr von der technologischen Zukunft? Erfahrungswerte spielen da keine Rolle, da diese Erfahrungen auf komplett anderen technologischen Rahmenbedingungen basieren.
Die Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung wurde schon immer und wird auch heute laufend unterschätzt.
All diesen Beispielen ist eines gemein: Die Verantwortlichen überschätzen die Dauer des Lebenszyklus einer Technologie gewaltig. Das ist gerade auch im digitalen Bereich der Fall. Man kann also nicht genug vorsichtig sein mit Investitionen. Vorsichtig heisst dabei natürlich nicht, Investitionen nicht zu machen, zu drosseln oder zu verzögern, sondern die Amortisationsdauer der Projekte so klein wie möglich zu bemessen. Sie bleiben so wendig und flexibel und letztlich erfolgreich am Markt.
Finanzielle und „Intellektuelle“ Investitionen
Nun gibt es zwei grundlegend verschiedene Investitionen, die in einer Firma gemacht werden können. Zum einen die finanzielle Investition. Zum anderen aber auch die intellektuelle Investition. Damit meine ich die Wissensbasis und Geisteshaltung der Mitarbeitenden im Unternehmen. Auch diese hat gewissermassen eine Amortisationsdauer. Denn sie wird über die Unternehmenskultur definiert und selbstgeregelt. Sie tun als Entscheidungsträger also gut daran, Ihrem Team eine Kultur zu vermitteln und vorzuleben, welche Technologie positiv bewertet und sehr offen für technologische Veränderungen ist. Nur so wird das Team neue Technologie richtig einschätzen und für Ihr Unternehmen verwenden.
Marktführer haben es demnach deshalb schwer, sich dem technologischen/digitalen Wandel anzupassen, weil sie entweder bestehende finanzielle oder intellektuelle Investitionen zu amortisieren haben. Neue Player starten diesbezüglich vom weissen Blatt. In der Mehrzahl der Fälle scheint das im Moment einfacher. Unternehmen wie Ikea, Migros, die Post oder Starbucks zeigen, dass es auch grossen etablierten Firmen gelingt, sich entsprechend zu transformieren.
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2 Antworten auf „Aufgepasst mit Investitionen im Digitalen Bereich: Das Fiberglass-Paradoxon“
Das nennt nan auch ‚leapfrogging‘ und ist auch in Teilen Afrika und Asien zu sehen.
Eine ähnliche Entwicklung hatte wir hier in Berlin: Während man Ende der 90er vor allem im Ostteil der Stadt tolle schnelle Leitungen auf Glasfaser-Basis hatte, dauerte der DSL-Ausbau später gerade hier besonders lange.